Johanna Strobel
My heart is not a clock (Martha), 2022
360 video, 5.7K, 5:28 min

 

Die Künstlerin Johanna Strobel präsentiert ihre erste immersive Simulation My heart is not a clock (Martha), 2022, in der sie disparate Referenzen aus verschiedenen Epochen und Geografien miteinander verknüpft. Das Projekt ist Strobels jüngste Iteration ihrer kontinuierlichen Beschäftigung mit Zeit als Konstrukt, das zugleich beschränkend und absurd ist, aber dennoch einen konstanten und bestimmenden Faktor unseres Lebens darstellt. Die 5:28 min lange Arbeit, deren Narration von der Künstlerin gesprochen wird, läuft in einer Endlosschleife und kann auf der Website oder mit einer speziell gestalteten, kostenlos erhältlichen VR-Brille aus Karton erlebt werden.

 

15:10
Nach fast einem halben Jahrzehnt sind die Bauarbeiten nun endlich abgeschlossen. Die Villa mit ihren üppigen Fresken, die sich über die weitläufigen Decken erstrecken, ist ein wahres Wunder für alle, die das Glück haben, sie zu besuchen. Bei der Einweihungszeremonie fragt ein verwirrter Gast den Mäzen Signore Agostino Chigi: „Was wird aus den kargen Sockeln, die als Trompe-l’oeil-Gemälde die Wände säumen? Womit werden die Maler diese Lücken füllen? Das Fresko kann doch nicht vollständig sein.“ Das darauf folgende Schweigen lässt für den Gast nur den Schluss zu, dass die Abwesenheit, die ein unstillbares Verlangen hervorruft, eben der vorgesehene Bewohner der kalten, grauen Sockel ist. Kann sich das Verlangen über die Grenzen der eigenen Lebensspanne hinaus ausdehnen? Signore Chigi, ganz beschäftigt sowohl mit der eigenen Nabelschau als auch mit dem Blick auf die Sterne, ließ die Loggia der Villa mit einer eleganten astrologischen Konstellation schmücken, die die Positionen der Planeten am 29. November, dem Geburtsdatum des Patrons, zeigt. Doch die Planeten kreisen weiter, und in diesem Moment ist die Erde mit all ihren Bewohner*innen so alt wie nie zuvor.

 

18:45
Weit jenseits der Felder am Rande der Stadt zieht eine niedrige dunkle Wolke schnell über den Horizont. Sie nähert sich begleitet von einer ohrenbetäubenden Kakophonie. Dies ist keine Wolke – die Passengers sind in Massen zurückgekehrt, ihre schwankenden Körper verdunkeln den Boden unter ihnen wie eine totale Sonnenfinsternis. Ihr Hunger und ihre schiere Anzahl haben Lebensgrundlagen zerstört, und ihre endlose, aberwitzige Suche nach Nahrung und Brutstätten quält die Anwohner*innen, von denen viele schließlich zu dem Schluss kommen, dass die Art vernichtet werden muss. Eine Kampagne zur Ausrottung der Passengers hat begonnen, die Menschen schießen ziellos in den Himmel.

 

19:14
Martha war die einzige noch lebende der Passengers, ein Endling. Sie wurde viele Jahre lang in Gefangenschaft gehalten und konnte sich in ihrem engen Käfig kaum bewegen oder mit Artgenoss*innen in Kontakt treten – sie waren alle ausgestorben. Möglicherweise beeinträchtigten diese melancholischen Umstände ihr Kreislaufsystem, was schließlich zu ihrem Tod durch einen Schlaganfall führte. Nach ihrem Tod machten sich die Tierpräparator*innen an die Arbeit und konservierten ihr Fleisch und ihre Sehnen – schließlich war Martha eine lokale Berühmtheit. Ihr zu Ehren wurde eine Zeremonie abgehalten und eine Gedenkstatue errichtet, zur Erinnerung an die Passengers für kommende Generationen.

 

20:22
Die italienische Renaissance-Villa erhebt sich aus der Asche und setzt sich langsam wieder zusammen, nur um erneut zu Staub zu zerfallen. Ineinander verschränkt und im Einklang wirbelnd, strömen die Passengers zu dem reinkarnierten Ort, nur um kurz darauf wieder zu verschwinden. Wessen wollen wir als Individuum oder als Gesellschaft gedenken? Vergessen wir niemals, dass Abwesenheit Begehrlichkeiten weckt.
Zeit wird in der Regel als linear verstanden, doch unsere allgegenwärtigste visuelle Darstellung – die kreisförmige Dreizeigeruhr – widersetzt sich genau dieser Vorstellung. Das Herz, ebenfalls eine Art Uhr, schlägt innerhalb einer bestimmten Lebensspanne nur eine bestimmte Anzahl von Malen. Mit der Geburt beginnt ein langsamer und endloser Countdown. Marthas Uhr ist schon vor langer Zeit abgelaufen, und dennoch werden derzeit Verfahren zur Rück-Ausrottung der Tiere untersucht. Wissenschaftler*innen diskutieren, ob sich Marthas getrocknete und staubige Haut verwenden lässt, um eine neue Generation von Passengers mehr als 100 Jahre nach ihrem Aussterben wieder erstehen zu lassen. Ein Frankenstein’scher Phönix dieser Art hätte unbestreitbar komplexe Auswirkungen, ökologisch und folgenschwer, weitreichend und unvorhersehbar. Ist Marthas Abwesenheit ein Grund für den Wunsch nach einer unnatürlichen Regenerierung ihrer Art? Die Reinkarnation durch menschliches Eingreifen ist der Akt, der einer menschenmöglichen Zeitreise am nächsten kommt.

– Moira Sims, 2022

Moira Sims ist Autorin, Kuratorin und Produzentin von Künstler*innenprojekten und Ausstellungen und lebt und arbeitet in New York City. Im Jahr 2020 gründete Sims Octagon, eine kuratorische Initiative, die,konzentriert auf enge Zusammenarbeit, lange Einzelprojekte realisiert. Octagon ist ein Zuhause für alle und eine Form für die Ewigkeit.

Johanna Strobel beschäftigt sich in ihrer interdisziplinären Arbeit mit „großen“ Themen und sperrigen Begriffen wie Zeit und Raum, Information und Macht, Entropie, (konzeptioneller) Geometrie, Sprache und der Entstehung, Zuschreibung und Aufhebung von (sprachlicher) Bedeutung. Sie studierte Mathematik und Informationswissenschaft an der Universität Regensburg sowie Malerei und Grafik an der Akademie der Bildenden Künste München. Im Jahr 2020 erwarb sie ihren MFA am Hunter College in New York City.

Gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien.